Die Geschichte von Girolfe

Wie ein Schmetterling die Freude zurückbrachte

von Andreas Spoo

Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg dargestellt anhand einer Fabel für Kinder und Erwachsene.
Bild: Walburga Hillesheim

Einst lebten an der Grenze zwischen Savanne und Steppe das Volk der Giraffen und das Volk der Wölfe.
Vor undenklichen Zeiten hatten sie friedlich beisammen gelebt. Das einzige Wasserloch weit und breit war ein beliebter Treffpunkt zwischen beiden Völkern gewesen, an dem sie miteinander sprachen, lachten, tanzten und sangen.

Doch irgendwann – niemand konnte mehr sagen, warum eigentlich – waren sich Giraffen und Wölfe Feind geworden. Sie mieden sich, wo sie nur konnten.

Wo sie es nicht konnten, war das Wasserloch.

Nur: Was früher ein lebendiges und fröhliches Beisammensein gewesen war, wurde nun zu einem Belagern und manchmal auch zu mehr. Es kam zu Streitereien, ja zu Raufereien und gar Verletzte hatte es schon auf beiden Seiten gegeben.

Die Ältesten der Völker waren über diesen Zustand entsetzt. Wie sehr sehnten sie sich nach den friedlichen Tagen ihrer Väter – doch wie sollten sie je wieder dorthin gelangen?
Niemand von ihnen wagte es, einen Vertreter zum anderen Volk zu entsenden. Weniger aus Furcht, diesem könnte etwas zustoßen, sondern vielmehr aus Angst, es könnte als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden. Und keiner wollte sein Gesicht verlieren: Was hätte das für ein Getratsche im eigenen und für Gelegenheit zu Spott beim anderen Volk gegeben!

Eines Tages nun kam ein Schmetterling des Wegs geflogen. Da er müde war und auch durstig, ließ er sich am Wasserloch nieder. Kaum hatte er seine müden Glieder ausgestreckt und sich am kühlen Naß erfrischt, da kamen von verschiedenen Seiten Giraffen und Wölfe angetrabt. “Oh,” dachte der Schmetterling, “ich kriege Gesellschaft, wie schön!”

Als die Giraffen und Wölfe am Wasserloch angekommen waren, sahen sie den fremden Gast und hießen ihn willkommen. Dies war das erste Mal seit langer Zeit, daß hier an diesem Ort freundliche Worte gewechselt wurden.
Das ließ die Führer der Völker aufhorchen: “Moment mal,” werden sie gedacht haben, “jetzt und hier haben wir keinen Groll im Herzen. Womöglich ist das die Chance, mit den anderen ins Gespräch zu kommen!”
Und siehe da, aus dem Volk der Giraffen und aus dem Volk der Wölfe trat je ein Mitglied hervor – die Verzweifeltsten, die auch schon bei den Raufereien mitgemacht hatten – und ging auf den anderen zu.

Sprach der Wolf: “Uns nervt es schon lange, was hier abgeht. Wie gerne hätten wir den Frieden, wie ihn die alten Lieder besingen, zwischen euch und uns. Doch wissen wir nicht, wie wir es anstellen könnten, mit euch ins Gespräch zu kommen.”
“Nun, das ist ganz einfach”, sagte die Giraffe, “hört auf damit, abends um unser Lagerfeuer zu schleichen, das ist uns nicht geheuer!”
“Na, was fällt euch denn ein, ihr Langhälse, wollt ihr uns etwa Vorschriften machen?”, fauchte der Wolf, “Wenn ihr eure Nasen nicht immer so hoch tragen würdet, dann hätten wir keine Probleme!”

“Oh ha!”, dachte der Schmetterling, “Ich glaube, hier sprechen zwei miteinander, die es noch nicht so recht verstehen, auf die Musik hinter den Worten zu lauschen. Mal sehen, vielleicht kann ich ihnen etwas schenken!”
Und noch während die Giraffe ihrerseits auf den Wolf reagierte – ihre Worte will ich an dieser Stelle aus Gründen der Achtsamkeit lieber verschweigen – flog er zum Wolf, setzte sich ihm auf die Schulter, ganz nahe beim Ohr, und flüsterte:

“Hallo Wolf, mö-” “Verdammt, hast Du mich erschreckt! Wer bis Du?”
“Ich möchte Dir ein Geschenk machen.”
“Ein Geschenk? Jetzt? Was soll ‘n das sein?”
“Ich würde Dir gerne ein Lied singen, das davon handelt, wie ich die Giraffe verstanden habe.”
“Wie du die Giraffe verstanden hast? Ja glaubst Du denn, ich habe Tomaten in den Ohren? Die wollen uns in die Pfanne hauen, das ist doch sonnenklar!”
“Das klingt so, als ob Du sauer wärst, weil Du Anerkennung für Deine Art des miteinander Redens brauchst.”
“Na, was denkst denn Du!?”
“Ich bin überzeugt davon, daß Du alles, was Du tust, daran mißt, ob es Dir Freude macht. Und eine solche Einstellung schätze ich sehr, denn ich liebe es, das Leben zu verschönern.”
“Aha. Und deswegen möchtest Du mir wohl auch dieses Lied singen, stimmt’s?”
“Oh, ich freue mich, daß Du das verstanden hast!”
“Mmh, na gut, ich laß’ es auf einen Versuch ankommen. Leg’ los!”

Kaum hatte der Wolf die letzten Worte gesprochen, da begann der Schmetterling auch schon zu singen. Und – wow! – das war eine Melodie! So etwas hatte der Wolf noch nicht gehört. Ihm wurde ganz anders zumute, auf eine Weise, die er bisher noch nie erlebt hatte.
Anfangs glaubte er ja, er würde krank – so friedlich und glücklich fühlte er sich auf einmal. Dann merkte er, daß das, was er bisher als Angriff der Giraffe verstanden hatte, wie Worte des Herzens klang. Er faßte allen Mut, den er besaß, zusammen und sprach:

“Du, Giraffe, verstehe ich Dich richtig, willst Du mir sagen, daß ihr Angst empfindet, wenn wir uns abends in der Nähe eures Lagerfeuers aufhalten, weil ihr Sicherheit braucht?”
“Na Gott sei Dank hast Du das mal kapiert”, sagte die Giraffe, “ich glaubte schon, Du hättest Karotten in den Ohren. Was soll das eigentlich, warum macht ihr das?”
“Das habe ich Dir doch eben schon gesagt. Wir machen das, weil ihr eure Nasen – “

“- Moment, Moment”, flüsterte der Schmetterling, “so hast Du es schon einmal versucht, der Giraffe zu erklären. Ich fürchte, sie wird es auch beim zweiten Mal anders verstehen, als Du es Dir wünschst.”
“Na, was soll ich denn machen – so red’ ich nun mal! Könntest Du nicht …?”
“Was?”
“Ähm, das ist mir jetzt ein bisschen peinlich, aber, äh, könntest Du ihr nicht sagen, wie ich es meine, so, daß sie es versteht?”
“Möchtest Du, daß ich zu ihr rüberfliege und ihr Dein Lied vorsinge?”
“Ja, bitte!”

Und schon schwebte der Schmetterling hinüber zur Giraffe und setzte sich ihr auf einen Höcker, ganz nahe beim Ohr.

“Du, Giraffe?”
“Nanu, wer bist denn Du?”
“Ich möchte Dir gerne ein Lied singen.”
“Ein Lied? Spinnst Du? Siehst Du denn nicht, daß ich hier aufpassen muß?”
“Hast Du Angst, in einen Schlamassel zu geraten, wenn Du nicht genau Acht gibst auf das, was der Wolf zu Dir sagt?”
“Ja, allerdings! Ich glaube, die haben’s auf uns abgesehen!”
“Das glaube ich auch – nur in einem anderen Sinne als Du.”
“He?” “Ich habe den Eindruck, der Wolf möchte sich mit Dir verständigen. Und genau davon soll auch mein Lied handeln.”
“Verständigen? Lied? Puh, ich bin jetzt ziemlich durcheinander! Bitte, vielleicht hilft mir Dein Lied ja, wieder zu mir zu kommen.”

Und der Schmetterling sang. Die Melodie war einfach, klar und rein und sie berührte die Giraffe tief in ihrem Innersten, an einem Ort, den sie mit dem Licht ihres Bewußtseins schon lange nicht mehr aufgesucht hatte.
Und nun verstand sie.
Ganz aufgeregt, in einer Mischung aus Freude und Traurigkeit fragte sie:

“Wolf, verstehe ich Dich richtig: Seid ihr traurig darüber, in der Nacht ohne die Wärme eines Feuers zu leben, weil ihr Gemeinschaft braucht? Und sagst Du mir, wie wichtig Dir Gleichwertigkeit und Achtung sind?”

Als der Wolf das vernahm, hüpfte sein Herz vor Freude. Wie sehr, wie lange schon hatte er sich danach gesehnt, auf diese Weise gehört und verstanden zu werden!
Ihn, seine Artgenossen und ebenso die Giraffen ergriff ein stiller süßer Schmerz. Ihre Gesichter entspannten sich und ihre Augen begannen hell zu leuchten.
Und da war noch mehr: Wer genau hinschaute – und der Schmetterling war ein guter Beobachter – , der sah silberne Tränen in ihren Augen schimmern.

Für eine ganze Weile war nichts weiter zu hören als Stille.
Danach brauchte es weniger als zwanzig Minuten, bis Giraffen und Wölfe eine Idee entwickelt hatten, von der sie sich alle Frieden und Freude versprachen.
Dies war der Beginn einer neuen Zeit. Und sie fing damit an, daß sie gemeinsam feierten.
Sie erinnerten sich all’ der Lieder, die sie zu früheren Zeiten gesungen hatten, und hier und heute erklangen sie wieder und wurden wieder wahr. Das war ein Singen, ein Tanzen und ein Lachen!
Und manchmal auch ein Weinen.
Denn wer etwas so Schönes erlebt und beim Erleben gewahr wird, wie schmerzlich lange er dieses Schöne vermißt hat, der weint. Vor Trauer und vor Freude.

Und an diesem Abend, während die Farben der Dämmerung mit dem Nachthimmel spielten, wurde ein neues Lied geboren.
Dieses Lied besang den heutigen Tag, und es begann damit, wie sich ein Schmetterling, müde und durstig, am Wasserloch niederließ.

Und damit es einen Namen bekommen konnte, fragten Giraffe und Wolf am Lagerfeuer den Schmetterling:

“Sag mal, wer bist Du eigentlich und wie heißt Du?”
“Ich bin die, die ich bin, und so heiße ich auch.”
“…?”
“Worte und Namen legen uns fest und nehmen uns etwas von dem, was wir tatsächlich sind.
Wenn ihr eurem Lied einen Namen geben wollt, so bitte ich euch, nennt es: Die Geschichte von Girolfe.”

Die Geschichte von Girolfe
Erzählt von Andreas Spoo